29.08.2015
Karwendelmarsch
Als in den 60ern Volksmärsche begannen sich wachsender Beliebtheit zu erfreuen wurde der Karwendelmarsch ins Leben gerufen. Mit über 2.000 Wanderern und Läufern von Anfang an ein Erfolg. Doch nach 22 Veranstaltungen wurde im Jahr 1990 die Austragung untersagt, angeblich aus Naturschutzgründen.
Seit 2009 darf er zum Glück wieder ausgetragen werden, das neue Motto „Die Legende lebt“. Allerdings war der Neuanfang mit rund 1.000 Teilnehmern eher etwas kleiner als erwartet. Doch eine ausgezeichnete Organisation ließ die Teilnehmerzahlen kontinuierlich steigen, sodass sich dieses Jahr die Organisatoren erstmals über eine komplett ausverkaufte Veranstaltung freuen durften. 2.500 Marschierer bzw. Läufer sind zugelassen, eine Zahl, die vermutlich von der Naturschutzbehörde vorgegeben ist. Das heißt es dürfen entweder 2.500 starten oder 0. Dann lieber Ersteres auch wenn es für diejenigen, die keine Startnummer mehr bekommen haben noch so schade ist.
2011 war ich schon einmal da. Damals bei Regen und später am Gramaisattel bei Schnee. Heute sieht die Wettervorhersage ganz anders aus. Zum Start um 6 Uhr in Scharnitz haben wir angenehme 15°C, aber im Ziel in Pertisau am Achensee erwarten uns 30°C im Schatten. Wenn’s denn da noch viel Schatten gäbe…
Jetzt im Moment ist die Sonne noch irgendwo hinter den Bergen. Es dämmert gerade, 52 Km und 2.281 Höhenmeter liegen vor uns. Da der Start heuer wegen einer Baustelle von der Ortsmitte an den Ortsrand verlegt wurde, sparen wir uns etwa einen halben Kilometer. Es sind also „nur“ 51,5 Km. „Einen halben Km sparen“ denke ich zumindest jetzt. Einige Stunden später wird uns der Shuttle-Bus Fahrer in der Ortsmitte absetzen und ich werde mit schweren Beinen diesen halben Kilometer zurück zum Auto schlurfen. Von wegen „halben Km sparen“…
724 Läufer stehen im vorderen Block von denen 664 das Ziel erreichen werden. Fast alle Wanderer haben ihre Startunterlagen abgeholt, sodass wohl gut 1.700 Wanderer in den hinteren Startblöcken aufgereiht sind. Meine Kamera ist noch müde und macht nur verschwommene Bilder…
Der erste Teil der Strecke ist zum einrollen, es geht flach bis leicht wellig das Tal hinauf, ab und zu eine kleine Rampe. Bei Km 9,5 (oder 9,0 wie auch immer das mit dem fehlenden halben Km ist) ist die erste Labestation. Gut 200 Höhenmeter sind geschafft, juhu, nur noch 2.000…
Die Luft ist angenehm kühl. Das Tal liegt noch im Schatten, teilweise steigt leichter Nebel auf, die ersten Gipfel werden bereits von der Sonne gestreift. Einfach traumhaft hier jetzt laufen oder wandern zu dürfen. Wir bewegen uns auf einer einfachen Forststraße, das heißt man muss nicht auf den Weg achten, sondern kann den Blick durch das Tal schweifen lassen.
Hoch über mir erblicke ich das Karwendelhaus. In der Direttissima wäre das wohl in 30 min zu schaffen, denke ich mir. Aber wir laufen auf der Forststraße in Serpentinen hinauf. Hier wird’s nun ein bisschen steiler, aber nicht so steil, dass man ins Wandern verfallen muss. Der Blick zurück ist atemberaubend. Die Sonne taucht die Gipfel in helles Gelb, das Tal liegt noch dunkel im Schatten. Wir tippeln in ruhigem Tempo die Fortstraße rauf. Noch gilt es Kraft zu sparen, der Weg ist noch weit, denn am Karwendelhaus sind zwar schon 18 Km geschafft, aber erst 800 positive und eigentlich noch kein einziger negativer Höhenmeter.
Wir biegen um eine Rechtskurve und blicken voll in der tief stehenden Sonne. Ich sehe fast nichts. Es folgt zum Glück bald wieder eine Rechtskurve. Ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt das Karwendelhaus, rechts unter uns das Tal wo wir noch vor wenigen Minuten waren.
An der Labestation schnappe ich mir erst einmal einen Becher Kartoffelsuppe. Die Auswahl ist an allen Labestationen sagenhaft, unterscheidet sich aber doch ein wenig von Stadtmarathons: Äpfel, Bananen, Obstriegel, Kekse, Käse- und Wurstbrote sind an allen 9 Labestationen Standard. Alles „Bio vom Berg“. Dazu Wasser, Tee und Holundersaft sowie separat Zucker oder Salz. V.a. auf Letzteres ist bei den heutigen Temperaturen zu achten. Hinzu kommen noch die Besonderheiten Kartoffelsuppe am Karwendelhaus, an einem anderen Punkt (weiß nicht mehr wo und den Speiseplan finde ich nicht mehr) Hafersuppe und (ich glaube in der Eng) Heidelbeersuppe.
Es lohnt sich an den Labestationen kurz zu verweilen, mit den überall super freundlichen Helfern ein paar Worte zu wechseln, beim Buffet zugreifen und den Blick genießen. Ein Helfer meint „ihr seids eh subber doabei“. Scheinbar haben die Station noch nicht so viele Jungs und Mädels passiert.
Auf meinen ersten Becher Kartoffelsuppe folgt noch ein zweiter, dazu noch Wasser und Holundersaft, dann kann es weiter gehen hinein in die grelle Morgensonne (die Bilder ins Licht ins zwar künstlerisch bescheiden, geben aber sehr schön das heutige Flair wieder).
Nun geht es rasend hinab zum kleinen Ahornboden. Der Weg ist zwar breit, aber sehr schottrig. Hier ist Koordination gefragt. Gelegentlich auf dem groben Schotter wegzurutschen ist normal, aber nicht schlimm solange man sich abfangen kann und der nächste Schritt wieder passt. Einem ist es wohl nicht gelungen. Er liegt mitten auf dem Weg, ein anderer Läufer über ihn gebeugt. Weiter unten kommt schon ein Helfer in roter Jacke entgegen. Ich überlege ob ich auch kurz halten soll, aber da schickt der Gestürzte seinen Ersthelfer gerade weg und ein Sanitäts-Quad braust heran. Im Verlauf des Tages höre ich noch von einigen Stürzen. Vermutlich haben der trockene Untergrund und die breiten Wege zu hohem Bergabtempo verleitet. Nur leider sind Forststraßen in den Alpen nicht ganz so glattpoliert wie im flachländischen Wald. Da schauen immer mal wieder größere Steine raus, Unebenheiten und große Schlaglöcher sind keine Seltenheit und wie bereits erwähnt liegt häufig grober Schotter. Ich hab mir beim Laufen auch schon oft genug blutige Knie und Handflächen geholt, heute zum Glück nicht, aber so schön das Laufen im Hochgebirge ist, es hat auch seine Schattenseiten. Stürze sind so eine. Selbst die wenigen Trailrunning-Profis legen sich gelegentlich auf den Boden.
Idyllisch liegt die Labestation am kleinen Ahornboden. Die Mädels dort machen sich ein bisschen Sorgen um die Hitze, die heute noch kommen wird.
Einige Meter weiter müssen wir durch ein Bachbett. Da wird sich heute niemand nasse Füße holen. Das war in den Vorjahren schon ganz anders.
Es folgt ein schmaler idyllischer Pfad durch den Bergwald, gut zu laufen, aber mit der ein oder anderen gemeinen Rampe versehen. Für meinen Geschmack könnte es gern kilometerweit so weiter gehen. Doch dann wird der Weg wieder breiter und wir erreichen eine Hütte wo uns einige Zuschauer frenetisch zujubeln. Ich kann noch an der Hütte vorbeijoggen, doch dann wird es zu steil. Zum ersten Mal wird es so steil, dass ich Gehen muss. Aber den anderen in meinem Leistungsbereich geht es genau so. Das hier ist der Beginn des Aufstiegs zur Falkenhütte.
Nach einem Stück auf der steilen Forststraße biegen wir auf einen Bergpfad und kämpfen uns hinauf. Neben uns ein spektakuläres Felsmassiv. Vor mir bleibt einer stehen und knipst Bilder. Es lohnt sich hier nicht nur den Blick auf die Uhr und auf den Untergrund zu haben, sondern auch die Umgebung in vollem Maße zu genießen.
Die 1.848 Meter hohe Falkenhütte steht in der gleißenden Morgensonne. Der zweite Anstieg ist geschafft. 30 Km haben wir hier bereits zurückgelegt. Schon seit Tagen freue ich mich auf den nun folgenden Trail, der direkt unter einer Felswand verläuft. 2011 haben wir hier im Nebel nicht einmal die Spitzen der Wand gesehen, jetzt steht sie da in ihrer vollen Majestät und wir schlängeln uns an ihrem unteren Ende den Hang entlang.
Man sieht es auf den Bildern gar nicht so deutlich, aber der Pfad ist ganz schön wellig. Zunächst geht es tendenziell eher bergab, was den Vorteil hat, dass man wenig später das alles wieder rauf darf. Wir lassen den Trail mit der so beeindruckenden Felswand hinter uns und erreichen einen Sattel. Ab da geht’s nur noch bergab in die Richtung „Eng“. Etwa 500 Höhenmeter auf gut 3 Kilometer liegen vor uns.
Den Pfad hatte ich leichter in Erinnerung. Er lässt sich zwar laufen, aber man muss schon konzentriert über Steine und Wurzeln hüpfen und geschickt den uns entgegen kommenden Wanderern ausweichen, denn viel Platz zum Passieren bleibt nicht. Die meisten Wanderer gehen artig zur Seite. Sehr anständig. Ich sage jedem „Danke“. Ein Spaß ist das für die Wanderer auch nicht wenn ihnen Massen an Läufern und Marschierern mit Startnummer entgegen kommen.
Anfangs macht der Pfad richtig Spaß, aber irgendwie läuft es heute bei mir nicht so rund. Langsam geht mir die Lust am konzentrierten Bergab-Springen verloren. Dann endlich wird der Pfad breiter und die Eng kommt in Sicht. Noch ein paar Meter durch eine Kuhherde hindurch und wir werden unten namentlich vom Sprecher in Empfang genommen. Der Blick zurück auf die Wiese, die wir gerade hinuntergehoppelt sind, bietet Alpenpanorama pur.
Ich schaue auf die Uhr und mich haut’s fast um. Ich hatte erwartet, dass ich zwischen 10 und 11 Uhr hier sein werde… es ist 9:20 Uhr. Jetzt gilt’s erst einmal beim Buffet zugreifen. Der Lauf beginnt eigentlich erst in der Eng. Man ist gut beraten diesen Punkt als die „Mitte“ der Tour zu betrachten. Die Anstiege zum Karwendelhaus und zur Falkenhütte waren nett. Der kommende Anstieg ist das nicht. Das ist ein richtiger Berg. Zuerst bringt uns eine knapp 10% steile Forststraße zur 3,5 Km entfernten Binsalm, wo es schon wieder Verpflegung gibt. Auf dem Weg dorthin haut mich einer an und meint „jetzt ist es wirklich ein KarwendelMARSCH“. Wir philosophieren darüber ob die Jungs ganz vorn dieses Ding noch laufen können. Wir passieren ein paar Wanderer, einer meint begeistert „Glückwunsch, ihr seid die Ersten, die sich hier rauf noch unterhalten können“ – „Wir sind eben Genußläufer“ gebe ich zurück – „Das glaube ich nicht“ ist die Antwort.
Kurz nach der Binsalm biegen wir in einen richtigen Bergpfad ein: Schmal, steil, Latschenkiefern bewachsen. Es sind zwar nur noch 400 Hm bis zum Gramaisattel, aber jetzt knallt die Sonne voll in den Hang. Ich hab’s geahnt, aber das macht es jetzt auch nicht besser. Das wird jetzt richtig hart. Vorbei ist es mit dem Genießen. Mein Mitwanderer hat sich mittlerweile nach vorn verabschiedet, mir ist es unmöglich sein Tempo zu halten. Der Blick zurück ist toll, der Anstieg hart.
Über mir höre „noch 2 Minuten dann bist du oben“. Ich schwanke zwischen Hoffen und Unglauben, schon oben? Der Pfad ist so dicht, dass man nicht nach oben sieht. Tatsächlich… plötzlich öffnet sich der Latschenkieferpfad und ich stehe auf dem Gramaisattel. „Nur“ noch bergab, „nur“ noch 11 Km.
Am Gramai-Hochleger gibt’s wieder massig Essen und Trinken. Ich meine zu einem Helfer „letztes Mal lag hier Schnee, da wurden wir hier in Rettungsdecken gepackt“ – er antwortet „tja, dieses Mal ist es halt heiß“.
Der Abstieg ist zwar technisch sehr einfach zu laufen, aber sehr steil. Mit den geschundenen Beinen hält sich der Spaß dann in Grenzen.
Eigentlich müsste man immer wieder stehen bleiben und den Blick genießen. Ich tue es ein paar Mal, die Beine danken es mir. Kurz bevor der Abstieg zu Ende ist, halte ich an und mache ein Bild von dem endlosen Tal welches wir gleich erreichen werden. Dabei biegt eine Wandergruppe um’s Eck und ist total begeistert, dass ich nicht nur renne, sondern auch knipse. Einer bietet mir sofort an, ein Bild von mir zu machen. Eine super nette Truppe.
Kaum im Tal gibt’s wieder Verpflegung. Hier sind einige Wasserbecher schon mit Salz bzw. Zucker präpariert.
Ab jetzt wird jeder Kilometer angezeigt. Das ist zwar nett, für meine Psyche aber eine Qual. Kilometer zählen, 9, 8, 7, 6, … jedes Mal der Blick auf die Uhr, die zum Glück nicht im Stoppuhrmodus ist. So weiß ich nie ob der Letzte knapp über oder unter 5 Minuten war. Das Tal zieht sich endlos. Anfangs wechselt noch Waldweg, Pfad, Wiese, aber dann nur noch Asphalt. Teilweise Schatten, meist müssen wir durch die pralle Sonne. Schätzungsweise 25°C, später wird die Temperatur noch an den 30°C kratzen.
Ich merke, dass ich in den letzten 2 Monaten nur 2-4 pro Woche laufen war, die Kraftausdauer fehlt. Diese letzten 9 Kilometer sind die Spielwiese der Stadtmarathonläufer. Zu denen gehöre ich nicht.
Endlich sehe ich Pertisau, aber das Schild am Rand sagt immer noch 2 Km. Von hinten kommt ein Läufer angerauscht. Egal, soll er doch. Ein Platz mehr oder weniger ist egal, für’s Altersklassenpodium reicht’s sicher nicht.
Dann kommt endlich der Zielkanal in Sicht. Ein Menschenspalier, viel Applaus. Es ist 11:25 Uhr, das heißt 5 Stunden und 25 Minuten habe ich für die 52 Km gebraucht. Ich bin überwältigt. Die 6 Stunden hatte ich im Hinterkopf, aber so richtig daran geglaubt habe ich nicht. 2011 war ich über 9 Stunden unterwegs wenn auch mit angezogener Handbremse.
Die frühe Zielankunft hat einen massiven Haken, der erste Bus zurück fährt nämlich erst in 2,5 Stunden. Nach 1 h Stunde in Pertisau fühle ich mich gut erholt, gestärkt und hydriert (was natürlich an dem reichen Gabentisch im Ziel liegt) und beschließe noch ein Stück hinauf Richtung Seebergspitze zu wandern. Was soll man auch tun? Füße in den Achensee strecken?
Ich wandere durch den Wald, mittlerweile ist es ordentlich heiß. So kann ich wenigstens ein bisschen mit den Marschierern, die jetzt noch zum Gramaisattel hoch müssen, mitfühlen. Die Hitze macht das heute richtig schwer.
Ich erhasche einen Blick zurück in das endlose Tal wo ich vor gut 1 Stunde noch gerannt bin. Nach 45 Minuten komme ich an einen traumhaften Aussichtspunkt mit Blick auf den Achensee. Das reicht für heute. 1 Stunde bleibe ich da oben, höre ein bisschen dem Sprecher im Ziel zu, den man wahrscheinlich bis zum Gipfel hört, dann geht’s zurück zum Ziel. Das Finishergeschenk muss ich noch abholen und dann geht’s mit dem Shuttle Bus in 75-minütiger Fahrt wieder zurück in den Startort Scharnitz.