21.06.2014

Zugspitz Supertrail
Der Zugspitz Ultratrail wurde in diesem Jahr zum 4. Mal ausgetragen. Kern der Veranstaltung ist eine 100 Km Schleife rund um die Zugspitze mit Start und Ziel in Grainau. Wem das zu viel ist, kann auf eine der kürzeren Strecken von 80, 60 oder 36 Km ausweichen. Die „Kurzstrecken“ starten an verschiedenen Orten und biegen nach ein paar Einführungsmetern auf die 100 Km Strecke ein. Das Hübsche daran, den letzten Buckel müssen alle rauf und anschließend runter ins Ziel nach Grainau.

Für mich ist das die erste Teilnahme am Zugspitz Ultratrail. Ich habe kurzfristig mit dem Gedanken gespielt die ganze Runde zu laufen, ihn dann aber wieder schnell verworfen. Der Grund ist ganz einfach. Der Start ist um 7:15 Uhr und am nördlichen Alpenrand geht kurz nach 21 Uhr die Sonne unter. Folglich schaffen nur die schnellsten 10-15% die 100 Km bei Helligkeit (Zielschluss ist übrigens am Sonntag morgen um 9 Uhr). Bei Dunkelheit durch die Alpen rennen, traue ich mir doch (noch) nicht zu, also weiche ich auf den 60,1 Km langen sogenannten „Supertrail“ aus. Mit 2.920 Höhenmetern im Aufstieg und 3.282 Hm im Abstieg auch keine leichte Aufgabe.

Der Shuttle-Bus liefert uns 60 Km Läufer gut 1 Stunden vor dem Start im österreichischen Leutasch-Weidach ab. Die Anzahl an Toiletten ist überschaubar, die Zahl der Damen ebenfalls, sodass dieses Mal die lange Schlange vor den Herrentoiletten ist. Rund 20 Minuten muss „mann“ dafür einplanen. Die Damen kommen quietschvergnügt zurück und fragen die Jungs grinsend „steht ihr immer noch an?“

Um 8:15 Uhr werden wir gebeten so langsam in den Startbereich zu kommen. Wer da einmal drin ist, kommt nicht mehr raus. Jeder der rein möchte, muss durch die Gepäckkontrolle. Die Liste an Zeug das man mitschleppen muss ist ordentlich: Warme Bekleidung, die Rumpf, Arme und Beine im Fall der Fälle komplett bedeckt. Dazu kommen eine Regenjacke, Mütze und Handschuhe, außerdem Erste-Hilfe-Set, Rettungsdecke, Pfeife, Stirnlampe mit Ersatzbatterien und ein Handy zum Absetzen von Notrufen. Schließlich bekommt man beim Abholen der Startunterlagen auch noch einen Kartensatz der kompletten Strecke und ein knuffigen kleinen Faltbecher (à vielleicht 100ml). Zum Schutz der Natur gibt’s an den Verpflegungspunkten keine Becher. Entweder man hat den Faltbecher oder ein anderes Behältnis dabei, oder es gibt unterwegs halt nichts zu trinken. Ach ja, ein mindestens 1,5 l großes Wasserbehältnis ist auch noch verpflichtend mitzuschleppen, ob gefüllt oder leer steht nicht im Reglement. Mit zwei gefüllten 0,75l Flaschen komme ich auf ein Rucksackgewicht von 3,5 kg. Das wird den Lauf nicht leichter machen…

Kurz vor 9 Uhr wird „Highway to hell“, sozusagen als Starthymne, gespielt. Ich freue mich auf den Tag in den Bergen und finde daher den Liedtext eher unpassend. Wenn ich geahnt hätte was da heute noch kommt…

Vor uns liegt zunächst der Aufstieg vom 1106m hoch gelegenen Leutasch-Weidach auf’s 2048m hohe Scharnitzjoch. Kaum oben, geht’s sofort wieder genau so weit runter zum ersten Verpflegungspunkt bei Kilometer 15. Diesen Punkt habe ich mir als erstes Zwischenziel gesetzt. Wer für diese +/-1.000 Höhenmeter mehr als 3h45 braucht, wird aus dem Rennen genommen.
Danach geht’s wellig weiter bis Kilometer 40. Wellig ist relativ, weil auf diesen 25 Km auch rund 1.000 Höhenmeter überwunden werden müssen. Dort ist mit 810m der tiefste Punkt der Strecke und mein Zwischenziel Nummer 2. Ab hier geht’s dann richtig los. 200 Höhenmeter steil hinauf, nochmal kurz etwas hinab, und dann gnadenlos hinauf zur 2.029m hohen Bergstation der Alpspitzbahn. Kaum oben folgen 1.300 Höhenmeter Abstieg ehe man noch zwei flache Kilometer ins Ziel laufen darf. Um 23 Uhr, also nach 16 Stunden ist Zielschluss. Das heißt die Letzten kommen bei Dunkelheit an. Folglich müssen alle eine Stirnlampe mitschleppen.

Der Start ist neutralisiert, d.h. auf dem ersten Kilometer fährt ein Pkw voraus, der nicht überholt werden darf. Das Tempo ganz vorne liegt schätzungsweise bei 4-4:30 min/km. Der Vorteil das Feld zieht sich ohne Gerangel langsam auseinander.
Noch ist es leicht wellig und die meisten traben quietschvergnügt durch den Wald, nur ein paar Wenige sind jetzt schon am Keuchen. Dann, nach ca. 25 Minuten wird es plötzlich richtig steil, kaum einer versucht hier noch zu laufen, fast alle wandern.
Weiter oben fragt mich ein Mitläufer, äh, Mitwanderer wie lange wir unterwegs sind. „40 Minuten“. Er erzählt mir, dass er erst seit einem Jahr läuft – nun ja, im Moment läuft er nicht und wirkt trotzdem platt… – dass er letztes Jahr den 36er fast ohne Training gemacht hat (klar die 36 sind ja so zu sagen der Einsteigerlauf) und dass er dieses Jahr noch viel vor hat (hier ein Bergultra, da ein Etappenrennen).
Es bleibt das einzige Gespräch an diesem Anstieg. Der Anstieg ist auch wandernd sehr fordernd, die durchschnittliche Steigung auf den oberen 4 Km bis zum Scharnitzjoch beträgt gut 20%.
Vor uns türmt sich ein Grasberg auf. Auf diesem Grasberg befinden sich diverse Gestalten mit Rucksäcken, die in Serpentinen versuchen das Ding zu erklimmen. Die böse Vorahnung bestätigt sich ein paar Meter weiter. Orangene Pfeile auf dem Boden weisen uns von der breiten steilen ausgewaschenen Forststraße nach rechts auf einen schmalen noch steileren Wiesenpfad.

Weiter oben wird’s ein bisschen flacher, ein paar Meter sind sogar laufbar. Jetzt sind keine Bäume mehr im Weg, die uns den Blick auf die herrliche Berglandschaft nehmen könnten. Gesäumt von Kühen und Schafen geht es auf Trampelpfaden weiter hinauf.
Ich komme einem jungen Kerl im weit erkennbaren (vermutlich gesponserten) Dress näher und denke mir, das kann doch nicht der sein. Ist er aber, stand am Start ganz vorn und wurde vor dem Lauf als einer der Mitfavoriten gehandelt. Irgendwas läuft hier schief, entweder bin ich zu schnell oder der zu langsam. Egal, ich ziehe an ihm vorbei, knipse hier und da ein Bild und hoffe, dass wir bald oben sind.

Der Weg ist jetzt schmal am Hang entlang, links geht’s hoch, rechts hinab. Es ist zwar nicht gefährlich, aber seitlich abrutschen will natürlich trotzdem keiner (das müsste man ja dann alles wieder rauf…).
Dann sind wir plötzlich oben. Im Nebel. Der ist aus dem Nichts gekommen. Das Scharnitzjoch ist kein Gipfel, es ist ein langgezogener Sattel, den wir überqueren, d.h. auf der einen Seite hoch und jetzt sofort auf der anderen wieder runter. Ein paar Wanderer sitzen oben, klatschen uns zu und das war’s. Ein Blick auf die Uhr, das darf nicht wahr sein. Der schnellste wurde nach 1:12 Stunde erwartet, meine Uhr zeigt 1:13h, das war flott, hoffentlich nicht zu flott. Nach dem Lauf lerne ich, dass ich zu diesem Zeitpunkt etwa als 15. Kerl den Sattel überquere. Gar nicht so schlecht bei 312 Startern.

Der erste Teil hinab ist steil und unwegsam. Am Schneefeld, das wir überqueren müssen, rennt der junge Mitfavorit wieder an mir vorbei. Sein Bergabtempo ist mir unmöglich mitzugehen. Das hatte ich befürchtet, ich habe zwar in den letzten Wochen das Bergauflaufen trainiert, aber bergab bin ich immer geschlichen.

Der Nebel lichtet sich zum Glück schnell und etwas weiter unten wird der Weg flacher und steiniger. Genau mein Terrain, nicht zu steil, aber koordinativ anspruchsvoll, das liebe ich.
Kurz vor mir läuft einer, dessen Tempo ich halten kann. Dann kommen zwei Jungs von hinten angewetzt und ziehen an mir vorbei. Kurz darauf folgt ein Gatter. Der erste unserer Vierergruppe bleibt stehen und hält uns brav das Gatter auf. Ich bedanke mich artig und lasse ihn sofort wieder vorbei. Der Weg ist nun wieder schmal und steil. So langsam gewöhne ich mich ans bergab prügeln. Auf 5 Km verlieren wir insgesamt 900 Höhenmeter (d.h. 18% im Schnitt), im Moment ist es aber definitiv steiler. Mit etwas Mühe schaffe ich es an den Jungs dran zu bleiben.
Es folgt ein kurzer Gegenanstieg von vielleicht einem 1 Kilometer Länge, ehe es die letzten Meter hinab zum Verpflegungspunkt, meinem ersten Zwischenziel geht. Kurz davor steht ein Schild „45 to go“. Bei der Streckenlänge reicht es völlig wenn nur alle 5 Kilometer eine Schild mit der zurückgelegten bzw. noch zurückzulegenden Entfernung steht.
Meine Gruppe hat sich ein paar Meter Abstand erkämpft. Dann hauen mich zwei Wanderer an. Sie wollen wissen wo wir her kommen und wo wir denn noch 45 Kilometer hin rennen. Ich halte an und gebe brav Auskunft. Im Gegenzug bekomme ich „Viel Erfolg“-Wünsche auf den weiteren Weg. Die habe ich auch dringend nötig, denn mein Quadrizeps (der vorderer Oberschenkelmuskel) meldet sich, und zwar rechts und links. Das schnelle ungewohnte bergab laufen fordert seinen Tribut.

Ein paar Meter weiter ist endlich der Verpflegungspunkt (VP), mein Zwischenziel Nummer 1, erreicht. Meine Oberschenkel sind ruiniert, komplett ruiniert. So dürfen die sich im Ziel anfühlen, aber nicht schon hier. Sie fühlen sich an als wären sie von Metall durchbohrt. Ein Fan ruft mir völlig begeistert zu: „Super, SCHON ein Viertel der Strecke geschafft!“. Mich haut’s fast um: „Sch… ERST ein Viertel… nochmal 3 solche Abschnitte.“
Mir bleibt zum Glück nicht lange zum nachdenken, denn die Strecke führt durch ein Zelt namens „Medical Crew“ wo ich gefragt werde ob alles ok ist. Ein kurzes „Ja“ reicht und ich darf passieren. Später wundere ich mich, dass es nur an diesem VP einen „Medizincheck“ gibt. Noch später kommt mir dann die Erkenntnis, dass hier ja Kilometer 55 für die Ultratrailer ist und dieser VP deshalb ein strategisch günstiger Punkt ist.
Aber nochmal zum Thema ein Viertel geschafft. So ganz stimmt das zum Glück/leider nicht. Ich bin 2 Stunden unterwegs, habe 15 von 60 Kilometer (also 1/4), aber schon +/-1.000 Hm von ca. +3.000/-3.300 Hm (also etwa 1/3). Wer bei einem solchen Lauf versucht Kilometer zu zählen, der macht sich selbst kaputt, nicht physisch, sondern psychisch. Daher macht es mehr Sinn die Strecke in beliebige Abschnitte einzuteilen und sich nur auf den Abschnitt zu konzentrieren. Wer hier schon an den Schlussanstieg denkt oder sich sagt jetzt muss ich noch einen Marathon laufen, der macht sich nur verrückt.

Die Tische sind am VP reicht gedeckt. Meine Gruppe ist schon fertig mit Taschen und Backen füllen und will gleich wieder los als ich ankomme. Ich lasse sie rennen, der Stress lohnt sich nicht. Ich bin im Moment 20. in der Gesamtwertung, das ist viel besser als erwartet. Erhofft hatte ich vielleicht Platz 100, wenn überhaupt.
Auch meine Backen und Trinkflaschen werden gefüllt und dann geht’s weiter. Ein paar Meter weiter steht eine Bank. Hier ist nicht so viel los wie am VP. Ich setze mich hin und entledige mich der Steinchen, die sich im Abstieg gemeinerweise in meine Schuhe geschlichen haben. Ein paar Mountainbiker fahren vorbei als ich so dasitze, sehen meine Startnummer und rufen „Sauber!“ zu. Ich bin verwirrt. Der Blick auf meine Beine sagt was anderes und der Blick auf meine Gesamtverfassung auch.

Weiter geht es flach Richtung Mittenwald. Laut Streckenprofil fällt die Strecke ganz sanft ab. Erst auf einem breiten Forstweg, dann kurz auf der Straße (wir wurden darauf hingewiesen, dass wir uns an die Straßenverkehrsordnung zu halten haben und RECHTS laufen müssen, da die Straße befahren ist. Meine StVO-Kenntnis sagt da zwar was anderes, auch für Österreich, aber was soll’s), dann geht’s in die Leutaschklamm. Der Leutaschgeist begrüßt uns. Aber statt dem erhofften holprigen Trail ist das auch nur ein breiter Wanderweg, der jetzt von etlichen Spaziergängern gesäumt ist. Am Ende der Klamm geht’s kurz steil hinab, dann wieder flach auf Forstweg, Radweg, Straße. Bäh. Das elende ebene Gelaufe nervt mich. Mein Quadrizeps macht’s verhältnismäßig gut mit, mein Kopf nicht. Der hat keinen Bock mehr. Außerdem ist es mittlerweile deutlich wärmer geworden. Die erste ernsthafte Krise. Es wird wohl nicht die Letzte sein.

10 Kilometer kriechen wir so durch die Ebene, ich wünsche mir einen Berg um endlich mal wieder (ohne schlechtes Gewissen) gehen zu können. Dann endlich weist uns ein Streckenposten auf einen schmalen unscheinbaren Weg in den Wald. Ein paar Meter weiter ist unser zweiter Verpflegungspunkt. Es ist fast Mittagsessenszeit. Flaschen füllen und ein bisschen was speisen ist deshalb angesagt. Nach dieser Stehpause folgt sofort die ersehnte Gehpause. Es geht auf einem schmalen Trail steil hinauf. Meine Oberschenkel schmerzen, die Sonne knallt, ach lassen wir das.
Vielleicht einen Kilometer weiter wird es flacher, die Gehpause hat ein Ende. Der Pfad führt leicht wellig über Wurzeln und Steine mitten durch den Wald. Ich bin in meinem Element. Die psychische Krise ist vorbei, die Beine sind wieder leichter. Ich laufe locker über Stock und Stein. Die Markierungen sind perfekt. Der Boden ist bemalt und orangene Bändel an diversen Bäumen zeigen an, dass man immer noch richtig ist. Verlaufen ist hier, zumindest bei Helligkeit, eigentlich unmöglich.

Nach vielleicht 2 oder 3 Kilometer spuckt uns der Wald am wunderschön gelegenen Ferchensee aus. Der ist nicht schäbbs, das ist nur das Bild (wer möchte, kann es ja nachbearbeiten). Am anderen Ende des Sees ist Kilometer 30 und der nächste VP. Es ist 12:35 Uhr, d.h. gut 3,5 Stunden bin ich jetzt unterwegs. Ein paar Plätze habe ich verloren, aber trotz ruiniertem Oberschenkel reicht es auf dem Abschnitt von Km 15-30 für die 36. schnellste Zeit.

Meine Mitläufer spekulieren mit einer Endzeit von 8 Stunden. Ich wende ein, dass doch die zweite Hälfte auch nicht mehr Höhenmeter hat als die erste und wir ja bereits die Hälfte an Kilometern haben, sodass 7 Stunden möglich sein müssten. Wenn ich geahnt hätte…

Wellig hatte ich den Teil bis Km 40 bezeichnet, oder? Auf einem breiten Forstweg geht’s hinauf. Mal kurz laufbar, dann wieder gehen, wieder kurz laufen, wieder gehen, und so weiter… Die Oberschenkel krampfen mal kurz, das hatte ich noch nie, lassen dann aber wieder nach. Die sollen nicht so haben…

Dann kommt der Steig, der uns hinab zum tiefsten Punkt der Strecke führt. Hätte ich mir das Profil nur besser eingeprägt, ach das würde jetzt auch nichts helfen. 400 Meter bergab, Höhenmeter natürlich, auf weniger als 2 Km. Die Oberschenkel schmerzen. Der ein oder andere, der bergab was kann, prescht vorbei. Ich habe keine Chance mitzugehen. Mit „normalen“ ausgeruhten Beinen wäre das möglich, mit Muskeln, die sich anfühlen als würden sie gleich zerplatzen nicht.
Wahrscheinlich kennt das jeder Marathoni. Nach einem Marathon ist das Treppen hoch laufen nicht schön, aber kein ernsthaftes Problem. Außerdem gibt’s ja gern Rolltreppen nach oben. Aber Treppe runter, furchtbar, und da gibt’s natürlich keine Rolltreppen. Manche gehen am Tag nach dem Marathon die Treppe rückwärts runter, weil’s vorwärts nicht geht.
Meine Oberschenkel fühlen sich schon eine Weile wie nach einem Marathon an. Jetzt auf diesen steilen Abstieg sind immer wieder künstliche Treppen eingebaut, d.h. mit Rundhölzer aufgestauter Kies und Erde. Die Höhe variiert, die halbwegs angenehmen vielleicht 20cm hoch, dann aber immer wieder ganz bösartige, fast kniehoch, also 30-50cm. Und wenn’s keine künstlichen Treppen sind, dann krabbeln wir über Wurzeln, die auch nicht besser sind. Ein Bekannter hat gesagt, dass er Abstiege kennt, die man nicht schneller runter kommt als hoch. Der hier fällt in diese Kategorie. Der Quadrizeps meutert. Hilft ihm aber nichts, da müssen wir beide durch. Die Läuferin vor mir sagt, dass sie absolut keine Lust mehr hat. Ich versuche sie ein bisschen zu motivieren. Das geht leider nach hinten los. Sie antwortet: „Warst du hier schon mal? Weißt du wie der Abstieg von der Alpspitze aussieht?“ Ok, vom Jägersteig, dem finalen Abstieg auf unserer Tour, wurde schon viel erzählt, also lieber Thema wechseln oder abhauen, ich will gar keine Details hören.

Endlich ist der Steig zu Ende. Mein zweites Zwischenziel ist erreicht. Hier waren die Infos verwirrend, mal hieß es, dass hier ein VP ist, mal, dass er erst weiter oben ist. Ich bin platt. Aber die Strecke ist gnadenlos. Vielleicht 200m Ebene dann führt uns ein Steig wieder genau so steil nach oben wie wir gerade runter sind.
Der Weg ist gesäumt von Bänken. Ich will mich hinsetzen, habe aber Angst, dass ich nie wieder aufstehe. Der Anstieg ist eine Qual: Steil, warm, die Oberschenkel sind dahin … ich auch. Ein kurzes flaches Stück, ich bleibe im Wanderschritt, dann geht’s wieder hoch. Von hinten fragt jemand „Wisst ihr wo der VP ist?“ – „Keine Ahnung, der müsste jetzt eigentlich irgendwann mal kommen.“

Dann ist er endlich da. Nicht dass der VP die Erlösung wäre. Hier geht’s ja erst richtig los, aber man kann einfach eine Weile rumstehen, die Flaschen füllen, evtl. sofort wieder leeren, den Magen füllen und darauf hoffen, dass die Speise und das Iso-Getränk ungeahnte Kräfte freisetzen. Das ist das schöne an Landschaftsultras. Hier ist kein Stress an den Verpflegungspunkten. Selbst im vorderen Feld bleiben fast alle stehen, greifen gemütlich bei diversen Köstlichkeiten zu, ratschen evtl. noch ein bisschen und irgendwann geht’s dann weiter.

Nach dem steilen Aufstieg auf den VP folgt nochmal ein kurzes welliges Stück auf einem breiten Forstweg, vielleicht 1-2 Km. Positiv denken, positiv denken, positiv denken…
Es geht nochmal etwas bergab, dann kommt eine Kreuzung, nach wie vor auf breiter Forststraße. Wir nehmen den Weg nach rechts etwas ansteigend. Mir ist sofort klar, das ist er jetzt, und ich habe Recht. Die folgenden 7 Kilometer gehen pausenlos bergauf, etwa 1.100 Höhenmeter.
Wir erreichen das Schild „15 to go“. Der Weg wird wieder schmal, es geht hinein in einen Zauberwald. Ich bin allein mit dem Wald und dem Rauschen des Bachs. Gelegentlich sehe ich die Dame, die mir vorher im Abstieg vom Jägersteig erzählt hat. Bergab war ich schneller, zu Beginn des Anstiegs hat sie mich wieder gefangen und ca. 1 Minute abgenommen. Dieser Abstand scheint nun konstant zu bleiben.

Latschenkiefern säumen den wilden Trampelpfad. An einer Stelle hängen sie so tief in den Weg hinein, dass ich unter ihnen durchkrabbeln muss, Krabbelhöhe vielleicht 1 Meter. Teilweise liegen auch Baumstämme im Weg, über die wir drüberkrabbeln dürfen.
Ich stiefele durch diesen wunderschönen Wald, immer bergauf, Schritt für Schritt. An Laufen ist nicht zu denken. Hätte ich noch mehr Power könnte ich das Wandern hier genießen. Aber ich habe genug für heute. Den Schmerz im Quadrizeps kann ich zwar halbwegs ausschalten, aber ich wünsche mir das Ziel her. Bei meinen drei letzten Ultras habe ich im Ziel gesagt „schade schon aus“, heute ist das anders.

In Serpentinen geht es steil den Berg hinauf. Ich hole Läufer, äh Wanderer mit Startnummer, ein. Sie gehören zum Basetrail. Die 36 Km lange Strecke, die eine Stunde nach uns in Mittenwald gestartet wurde. Sie machen alle brav Platz.
Einer der Wanderer stellt sich an den Rand und meint: „Geh ruhig vorbei, für mich ist es eh rum.“ – „Na komm, das schaffst du jetzt auch noch!“ – „Ja, das schon, aber unser Zeitlimit ist vorbei. Ich hätte um 15:30 Uhr am nächsten VP sein müssen.“ Es sind zwar von weiter oben Leute zu hören, d.h. wir müssten in wenigen Minuten da sein, aber die Uhr zeigt schon 15:40 Uhr. Das heißt für den armen Kerl ist es tatsächlich gelaufen. Am VP wird ihm der Chip weggenommen werden und dann kann er auf eigene Faust tun und lassen was er möchte. Zeitlimits sind immer ein Frustfaktor, für die Veranstalter aber unverzichtbar. 8:30 Stunden hat man für die 35,6 Km mit ca. 2.000 Hm im Auf- und Abstieg Zeit.

Dann ist der VP da. Zu Essen brauche ich nichts. Ich fülle eine Flasche und gehe gleich weiter. Im Bergaufschritt drin bleiben. Noch 400 Meter, Höhenmeter natürlich. Jetzt sind wir aus dem Wald draußen. Wir haben einen fantastischen Blick. Der Weg ist jetzt breit, aber die Steigung wechselt permanent, das macht es nicht leichter. Mal ist es etwas flacher, kurz sogar laufbar, dann wieder gnadenlos steil, Seil und Karabiner wären erwünscht.

Der Weg zieht sich. Ich bin am Ende (nicht am Ende des Laufs sondern meiner Kräfte). Von hinten kommen zwei Jungs. Der 80 Kilometer Sieger mit einem Begleiter. Die sind 1 Stunde vor uns gestartet. Das wollte ich eigentlich vermeiden. Jetzt ist mir aber eh alles egal. Die Beiden sind nur unwesentlich schneller, aber trotzdem bald nicht mehr zu sehen.
Irgendwann müsste doch diese sch… Bergstation zu sehen sein. Nochmal ne Kurve, immer noch nichts zu sehen.

Dann geht’s durch eine Art Tor aus zwei Bergflanken, dahinter ist endlich der letzte Hang zu sehen. Da oben ist Schluss, dann müssen wir „nur“ noch bergab.

„Nur“ noch bergab. Wir sind auf 2.029 Meter. Bergstation der Alpspitzbahn. Wir haben 51 Kilometer in den Knochen. Ich wünsche mir das Ziel in Grainau auf 1.100 Meter. Meine Erinnerung sagt das wirklich. Nur noch 700 Höhenmeter runter.
Tatsächlich liegt das Ziel aber auf 744 Metern, d.h. fast 1.300 Höhenmeter auf 7 Kilometern plus zwei flache Kilometer liegen noch vor uns.

Laufen geht kaum noch. Der Bergpfad ist zu steil und anspruchsvoll. Das wäre sonst kein Problem, aber die Oberschenkel sind schon seit Stunden überlastet. Jetzt drohen sie langsam den Dienst zu verweigern. Immer wieder die gehassten künstlichen Treppen oder Steinhaufen, die wir runter müssen.
Der Weg ist schmal. Eine Stelle ist mit einem Stahlseil gesichert. Ich finde es zwar nicht notwendig, aber es ist da. Hier werden später mehr als 2/3 der 100 Km Läufer bei Dämmerung bzw. völliger Dunkelheit runter krabbeln. Ein Hoch auf die Qualität heutiger Stirnlampen. Ich bin froh die 60 Km gewählt zu haben. Der Absteig reicht mir schon bei Helligkeit.
Von wegen nur bergab. Es wird flach, dann geht’s wieder bergan, nur kurz aber steil. Dann wird es flach. In einem weiten Bogen laufen wir auf einem nahezu flachen Trail zum letzten VP. Toll, so verlieren keine Höhenmeter, d.h. es wird unten wieder richtig steil werden.

Am VP schnappe ich mir ein paar Kleinigkeiten, dann geht’s hinab. Das ist er nun, der „Jägersteig“. Immer noch sind es über 1.000 Höhenmeter, aber nur noch 4 Km bergab plus 2 Km flach. Das bedeutet durchschnittlich etwa 25% Gefälle. Künstliche Treppen en masse, Steine, Wurzeln. Manchmal kann ich laufen, dann revoltieren die Oberschenkel, dann muss ich bergab Gehpausen einlegen. Das ist frustrierend. Ein Mädel vom Basetrail spricht mich an „Hast du das 5 Km Schild gesehen?.“ – „Ne, ich hoffe das habe ich übersehen.“ Die Hoffnung trügt, nach einer Weile taucht es auf, immer noch 5 Kilometer „to go“…
Auf einmal ein Ruf von hinten, Schritte zu hören, der 100 Km Sieger kommt angerauscht. Kaum ist er da, schon ist er weg. Ein paar Jungs von unserem Lauf versuchen dran zu bleiben, ich nicht. Mal trabe ich ein paar Meter, dann muss ich wieder gehen. Wenn doch endlich dieser Abstieg zu Ende wäre.

Ab jetzt gibt es für jeden Kilometer Schilder. Wahnsinn, sind die weit auseinander. 4, irgendwann 3, nach langem Warten 2. Kurz vor Km 2 nochmal ein brutal steiles Stück. Drei Basetrailerinnen versuchen seitlich sich eine Rinne runter zu kommen. Sie kommen nur langsam vorwärts, äh, seitwärts… (sie sind ja 90° gedreht). Ein letzter Kraftakt für meinen geschundenen Quadrizeps. In schnellen Minischritten versuche ich die Rampe runter zu laufen. Es gelingt mit Mühe. Ich spüre förmlich die Mischung aus Faszination und Kopfschütteln der drei Damen als ich vorbei wetze.

Endlich flach. Meinen Laufstil will ich nicht mehr sehen. 2 Kilometer, das geht jetzt auch noch irgendwie. Am Rang immer wieder Zuschauer, die meisten jubeln, klatschen, feuern an. Nach der Stille der Berge jetzt total ungewohnt, aber trotzdem toll.
Die letzten Meter. Das Zuschauerspalier wird dichter. Es ist geschafft. 18:05 Uhr, d.h. 9 Stunden und 5 Minuten war ich da draußen. Der Sprecher sagt was von 42. gesamt und 26. in der Hauptklasse (das sind alle unter 40 Jährigen).

Ein Bekannter spricht mich an, wie war’s, welche Runde hast du gemacht, wie lang hast du gebraucht? Auf meine Antwort, kommt „oh, dann hat’s dich aber zerlegt!“. Ja, in der Tat, wie gesagt als 20. am ersten VP , im Ziel 42. Für die letzten gut 6 Km habe ich 59 Minuten gebraucht obwohl es nur bergab ging (aus meinem Lauf waren 148 Jungs und sicher auch etliche Mädels waren auf diesem Teil schneller als ich).

Am nächsten Morgen wache ich gegen 8 Uhr auf und denke an die Jungs und Mädels vom 100 Km Lauf, die sich die ganze Nacht durch die Berge gekämpft haben und nun auf den letzten Metern sind.